Zuckersüße macht satt? Was die Geschmacksforschung Neues verrät

Freising, 10.11.2020

Bislang ist nur wenig darüber bekannt, inwieweit die Geschmackswahrnehmung von Zucker zur Sättigung beiträgt. Eine aktuelle Studie von österreichischen und deutschen Wissenschafter*innen um Veronika Somoza und Barbara Lieder gibt nun neue Einblicke in die Zusammenhänge zwischen dem Süßgeschmack von Zucker, der Energieaufnahme sowie der Hunger-Sättigungsregulation. Die Studie ist im Fachjournal „Nutrients“ erschienen.

Der süße Geschmack von Zucker ist weltweit sehr beliebt. Allein in Österreich und Deutschland liegt der jährliche Prokopfverbrauch bei etwa 33 bzw. 34 Kilogramm. Zucker spielt somit für die Ernährung und Gesundheit der Bevölkerung eine immer größer werdende Rolle, insbesondere im Hinblick auf das Körpergewicht. Dennoch ist bislang nur wenig über die molekularen (Geschmacks-)Mechanismen bekannt, über die Zucker unabhängig von seinem Energiegehalt die Nahrungsaufnahme beeinflusst.

Geschmacksrezeptor und Sättigungsregulation

„Wir sind daher der Frage nachgegangen, welche Rolle die Aktivierung des Süßgeschmacksrezeptors bei der Sättigungsregulation spielt“, sagt Veronika Somoza, stellvertretende Vorständin am Institut für Physiologische Chemie der Universität Wien und Direktorin des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München.

Hierzu führten die Wissenschafter*innen eine verblindete Cross-over-Interventionsstudie mit Glukose (ugs. Traubenzucker) und Saccharose (ugs. Haushaltszucker) durch. An dieser nahmen 27 gesunde Männer im Alter zwischen 18 und 45 Jahren teil. Die Probanden erhielten entweder eine 10-prozentige (w/v, Gewichtsprozent) Glukose- oder Saccharoselösung oder eine der beiden Zuckerlösungen mit zusätzlich 60 ppm „lactisole“ (engl. Bezeichnung). Lactisole ist eine Substanz, die an eine Untereinheit des Süßrezeptors bindet und so die Süßgeschmackswahrnehmung vermindert. Trotz unterschiedlicher Zuckerarten wiesen alle Testlösungen mit und ohne lactisole den gleichen Energiegehalt auf.

Zwei Stunden nach Trinken der jeweiligen Testlösung durften die Teilnehmer so viel frühstücken, wie sie wollten. Kurz vor und während der zweistündigen Wartezeit entnahmen die Forschenden den Probanden in regelmäßigen Abständen Blut und maßen deren Körpertemperatur.

Durchschnittlich 100 Kilokalorien mehr

Nach Konsum der lactisole-haltigen Saccharoselösung nahmen die Teilnehmer ca. 13 Prozent mehr Nahrungsenergie aus dem Frühstück auf – also etwa 100 Kilokalorien mehr als nach dem Trinken der Saccharoselösung ohne lactisole. Ebenso verringerten sich bei den Probanden dieser Testgruppe die Körpertemperatur sowie die Serotoninspiegel im Blut. Serotonin ist ein Neurotransmitter und Gewebshormon, das u. a. appetithemmend wirkt. Im Gegensatz hierzu beobachteten die Forschenden keine Unterschiede nach Gabe der lactisole-haltigen Glukoselösung und der puren Glukoselösung.

„Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass Saccharose unabhängig von seinem Energiegehalt über den Süßgeschmacksrezeptor die Sättigungsregulation sowie die Energieaufnahme moduliert“, erklärt Barbara Lieder, Leiterin des Christian Doppler Labors für Geschmacksforschung und ebenfalls stellvertretende Vorständin des Instituts für Physiologische Chemie an der Fakultät für Chemie der Universität Wien.

Die Erstautorin der Studie, Kerstin Schweiger von der Universität Wien, ergänzt: „Warum wir den ‚lactisole-Effekt‘ nicht bei Glukose beobachten konnten, wissen wir noch nicht genau. Wir vermuten jedoch, es liegt daran, dass Glukose und Saccharose den Süßrezeptor auf unterschiedliche Weise aktivieren. Zudem gehen wir davon aus, dass Süßrezeptor-unabhängige Mechanismen eine Rolle spielen.“

„Es besteht also noch viel Forschungsbedarf, um die komplexen Zusammenhänge zwischen Zuckerkonsum, Geschmacksrezeptoren und Sättigungsregulation auf molekularer Ebene zu klären“, so Somoza. Insbesondere, da sich die Süßrezeptoren auch im Verdauungstrakt fänden und noch wenig über deren dortige Funktion bekannt sei. Die ersten Schritte seien aber gemacht.

Publikation:

Schweiger K, Grüneis V, Treml J, Galassi C, Karl CM, Ley JP, Krammer GE, Lieder B, Somoza V (2020) Nutrients, 12(10): 3133, DOI: 10.3390/nu12103133. Sweet taste antagonist lactisole administered in combination with sucrose, but not glucose, increases energy intake and decreases peripheral serotonin in male subjects; https://www.mdpi.com/2072-6643/12/10/3133  

Förderung:
Diese Forschung wurde von der Symrise AG und dem österreichischen Ministerium für digitale und wirtschaftliche Angelegenheiten, Christian Doppler Labor für Geschmacksforschung, finanziert. Die Geldgeber hatten keinen Einfluss auf die Sammlung, Analyse oder Interpretation von Daten, auf das Schreiben des Manuskripts oder bei der Entscheidung, das Ergebnis zu veröffentlichen.

Hintergrundinformationen:

Lactisole ist eine chemische Verbindung aus der Gruppe der Phenolether. In den USA wird der Stoff z. B. in Konzentrationen von 50 bis 150 ppm in stark zuckerhaltigen Marmeladen verwendet. Er dient dazu, den Süßgeschmack zu reduzieren, um die Fruchtaromen so stärker in den Vordergrund treten zu lassen.

Wissenschaftliche Kontakte:

Univ.-Prof. Dr. Veronika Somoza
Direktorin
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Lise-Meitner-Str. 34, 85354 Freising
Tel.: +49 8161 71 2700
E-Mail: v.somoza.leibniz-lsb(at)tum.de

Dr. Barbara Lieder
Leiterin Christian Doppler Labor für Geschmacksforschung
Universität Wien, Fakultät für Chemie
Institut für Physiologische Chemie
Althanstraße 14, 1090 Wien
Tel: + 43 1 4277 70611
E-Mail: Barbara.Lieder(at)univie.ac.at

Pressekontakte:

Dr. Gisela Olias
Wissenstransfer, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Lise-Meitner-Str. 34, 85354 Freising
Tel.: +49 8161 71 2980
E-Mail: g.olias.leibniz-lsb(at)tum.de
www.leibniz-lsb.de

Mag. Alexandra Frey
Pressebüro und stv. Pressesprecherin
Universität Wien
1010 Wien, Universitätsring 1
T +43-1-4277-175 33
M +43-664-60277-175 33
alexandra.frey(at)univie.ac.at

Informationen zum Institut

Das Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München (Leibniz-LSB@TUM) besitzt ein einzigartiges Forschungsprofil. Seine Wissenschaftler kombinieren Methoden der biomolekularen Grundlagenforschung mit Analysemethoden der Bioinformatik und analytischen Hochleistungstechnologien. Ihr Ziel ist es, die komplexen Inhaltsstoffprofile von Rohstoffen bis hin zu den finalen Lebensmittelprodukten zu entschlüsseln und deren Wirkung auf den Menschen aufzuklären. Basierend auf ihrer Forschung entwickelte Produkte sollen dazu beitragen, die Bevölkerung auch in Zukunft nachhaltig und ausreichend mit gesundheitsfördernden, wohlschmeckenden Lebensmitteln zu versorgen. Darüber hinaus sollen die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu dienen, personalisierte Ernährungskonzepte zu entwickeln, die zum Beispiel Menschen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit helfen, ohne dass die Lebensqualität eingeschränkt und die Gesundheit gefährdet ist.


Das Leibniz-LSB@TUM ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, die 96 selbständige Forschungseinrichtungen verbindet. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen - u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,9 Milliarden Euro.