Bitterrezeptor liefert Basis für die Entwicklung neuartiger Arzneimittel-Tests
Freising, 20.07.2018
Wussten Sie schon, dass sich Bitterrezeptoren nicht nur auf der Zunge befinden, sondern u. a. auch auf Herzzellen und Zellen der Atemwege? Und ist Ihnen bekannt, dass neben Geschmacksstoffen auch zahlreiche Arzneistoffe unsere Bittersensoren aktivieren? Eine neue internationale Studie unter Führung von Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München gibt nun einen detaillierten Einblick in die Zusammenhänge zwischen der Molekülstruktur und Funktion des Bitterrezeptors TAS2R14. Ihre Ergebnisse könnten künftig dazu beitragen, neuartige, biologische Testsysteme für Arzneimittel zu entwickeln (Nowak et al. 2018, Biochimica et Biophysica Acta - General Subjects).
An der Studie waren neben Stefanie Nowak und Wolfgang Meyerhof vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke auch Forscher der israelischen Hebrew University sowie der amerikanischen University of California beteiligt.
Menschen nehmen Bitterstoffe mit Hilfe von 25 verschiedenen Rezeptortypen wahr, die sich auf Zunge und Mundschleimhaut befinden. Einige von ihnen erkennen nur eine kleine Auswahl von bitteren Substanzen. Andere sind dagegen in der Lage, ein breites Spektrum unterschiedlichster Bitterstoffe zu detektieren. Zu dieser Gruppe gehört auch der untersuchte Bitterrezeptor TAS2R14. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Bitterrezeptoren im Mundraum dazu dienen, vor dem Verzehr giftiger Substanzen zu warnen. Welche Funktion sie auf den Zellen anderer Organe haben, ist noch nicht hinreichend erforscht. Dennoch zeigen jüngste Befunde, dass Bitterstoffe glatte Muskelzellen der Atemwege entspannen und lassen annehmen, dass Bitterrezeptoren eine Rolle bei der Immunabwehr spielen. Darüber hinaus erkennen diese Sensormoleküle zahlreiche medizinische Wirkstoffe, die eigentlich auf andere Zielproteine zugeschnitten sind. Das legt den Verdacht nahe, dass sie als sogenannte Off-Targets auch für Nebenwirkungen von Medikamenten verantwortlich sein könnten.
Aus Voruntersuchungen der Wissenschaftler und Studien anderer Arbeitsgruppen sind etwa 80 Substanzen bekannt, die den Bitterrezeptor TAS2R14 aktivieren. Hierzu zählen unter anderem Wirkstoffe der traditionellen Chinesischen Medizin, aber auch Schmerzmittel der westlichen Welt wie Diclofenac oder Nifluminsäure. Doch warum aktivieren so viele unterschiedliche Substanzen den Rezeptor und welche molekularen Mechanismen stecken dahinter? Um diese Frage zu beantworten, untersuchte die Forschergruppe um Behrens die Wechselwirkungen zwischen der molekularen Innenarchitektur (Bindungstasche) des Rezeptors und unterschiedlichen Wirkstoffarten (Agonisten), die den Rezeptor aktivieren. Mit gezielt veränderten Varianten des Bitterrezeptors führten sie umfassende zellbasierte Funktionstests, computergestützte Agonisten-Bindungsstudien sowie Modellierungen der Rezeptorinnenarchitektur durch.
„Die Bindungstasche des Rezeptors ist relativ ausladend. Wie wir zeigen, sind ihre Kontaktstellen für Wirkstoffe so ausgelegt, dass sie möglichst viele verschiedene Substanzklassen erkennen. Vielleicht kann man sich die Bindungstasche des TAS2R14 wie ein einfaches Türschloss vorstellen, in das eine ganze Vielzahl von Schlüsseln passt und das auch von einem Dietrich aufgeschlossen werden kann“, erklärt Behrens seine Ergebnisse.
Wenn die Forscher die Innenarchitektur des Rezeptors durch gezielte Punktmutationen veränderten, erhöhte sich in vielen Fällen die Spezifität des Rezeptors für einen bestimmten Wirkstofftyp. Sie gehen daher davon aus, dass der von ihnen untersuchte Bitterrezeptor eine gute Basis bildet, um Wirkstoffsensoren zu generieren, die gezielt in biologischen Arzneimitteltests verwendet werden könnten. Der TAS2R14 ist zudem im menschlichen Körper auch außerhalb des Geschmacksorgans weit verbreitet und verschiedene Arzneistoffe aktivieren ihn. Daher käme er laut Aussage der Wissenschaftler auch als Off-Target für neue und alte Medikamente in Frage und sollte künftig als mögliche Ursache für Nebenwirkungen in Betracht gezogen werden.
„Nicht zuletzt lassen sich unsere neuen Erkenntnisse nutzen, um Bitterblocker zu entwickeln, die den Geschmack von Medikamenten verbessern“, sagt Studienleiter Behrens. „Stellen Sie sich einen chronisch kranken Menschen vor, der gezwungen ist, täglich eine ganze Reihe bitterer Pillen zu schlucken. Einen Erwachsenen kann man vielleicht noch von der Notwendigkeit überzeugen. Bei einem Kleinkind ist das schon schwerer.“ Zusammen mit seinen Kollegen am Leibniz-Institut und internationalen Partnern will Biologe Behrens zukünftig über die Geschmacksforschung hinaus den systembiologischen Ansatz seiner Forschung weiter verfolgen. „Es reicht heute nicht mehr aus, auf Einzeleffekte von Wirkstoffen zu schauen, zu denen auch Bitterstoffe oder andere Lebensmittel-Inhaltsstoffe zählen. Wir müssen schauen, wie die Substanzen auf den gesamten Organismus wirken und welche molekularen Mechanismen dafür eine Rolle spielen“, so Behrens.
Originalarbeit:
Reengineering the ligand sensitivity of the broadly tuned human bitter taste receptor TAS2R14. Nowak S, Di Pizio A, Levit A, Niv MY, Meyerhof W, Behrens M. Biochim Biophys Acta. 2018 Jul 12. pii: S0304-4165(18)30200-9.
https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0304416518302009; https://doi.org/10.1016/j.bbagen.2018.07.009
Ergänzende Literatur:
Probing the binding pocket of the broadly tuned human bitter taste receptor TAS2R14 by chemical modification of cognate agonists. Karaman R, Nowak S, Di Pizio A, Kitaneh H, Abu-Jaish A, Meyerhof W, Niv MY, Behrens M. Chem Biol Drug Des. 2016 Jul; 88(1):66-75. doi: 10.1111/cbdd.12734.
The bitter pill: clinical drugs that activate the human bitter taste receptor TAS2R14. Levit A, Nowak S, Peters M, Wiener A, Meyerhof W, Behrens M, Niv MY. FASEB J. 2014 Mar; 28(3):1181-97. doi: 10.1096/fj.13-242594.
Hintergrundinformation
Die Studie wurde mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.
Kontakt:
Dr. Maik Behrens
Sektion II, Arbeitsgruppe Taste Systems Reception & Biosignals
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie
an der Technischen Universität München
Tel.: +49 816171 2987
E-Mail: m.behrens.leibniz-lsb(at)tum.de
Pressekontakt:
Dr. Gisela Olias
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie
an der Technischen Universität München
Tel.: +49 816171 2980
E-Mail: g.olias.leibniz-lsb(at)tum.de
www.leibniz-lsb.de
Das Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München (Leibniz-LSB@TUM) besitzt ein neues, einzigartiges Forschungsprofil. Seine Wissenschaftler kombinieren Methoden der biomolekularen Grundlagenforschung mit Analysemethoden der Bioinformatik und analytischen Hochleistungstechnologien. Ihr Ziel ist es, die komplexen Inhaltsstoffprofile von Rohstoffen bis hin zu den finalen Lebensmittelprodukten zu entschlüsseln und deren Funktion als biologische Wirkmoleküle auf den Menschen aufzuklären. Basierend auf ihrer Forschung entwickelte Produkte sollen dazu beitragen, die Bevölkerung auch in Zukunft nachhaltig und ausreichend mit gesundheitsfördernden, wohlschmeckenden Lebensmitteln zu versorgen. Darüber hinaus sollen die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu dienen, personalisierte Ernährungskonzepte zu entwickeln, die zum Beispiel Menschen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit helfen, ohne dass die Lebensqualität eingeschränkt und die Gesundheit gefährdet ist.
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