Freispruch für modernen Weizen?

Gluten im Weizen: Was sich nach 120 Jahren Züchtung verändert hat

Freising, 11.08.2020

In den letzten Jahren ist die Zahl der Menschen stark gestiegen, die von einer Zöliakie, Weizenallergie oder einer Gluten- oder Weizensensitivität betroffen sind. Doch warum ist dies so? Enthalten moderne Weizensorten eventuell mehr immunreaktives Eiweiß als früher? Eine Studie des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München und des Leibniz-Instituts für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung trägt nun mit ihren Ergebnissen dazu bei, diese Frage zu beantworten.  

Weizenkörner bestehen zu etwa 70 Prozent aus Stärke. Ihr Eiweißanteil liegt in der Regel bei 10 bis 12 Prozent. Gluten, das sogenannte Klebereiweiß, macht davon mit etwa 75 bis 80 Prozent den Löwenanteil aus. Es handelt sich bei Gluten um ein Stoffgemisch aus verschiedenen Eiweißmolekülen. Diese lassen sich grob in zwei Untergruppen einteilen: die „Gliadine“ und die „Glutenine“.  

Seit langem ist bekannt, dass Weizeneiweiße Erkrankungen wie Zöliakie oder Weizenallergien auslösen können. Etwa 1 bzw. 0,5 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung sind betroffen. Zudem gewinnt die Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität (NCGS) in der westlichen Welt immer mehr an Bedeutung.

„Viele Menschen befürchten, dass moderne Weizenzüchtungen mehr immunreaktives Eiweiß enthalten als früher und dies die Ursache für die gestiegene Erkrankungshäufigkeit ist“, sagt Darina Pronin vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie, die im Rahmen ihrer Doktorarbeit maßgeblich an der Studie beteiligt war. Hinsichtlich des Glutens stünde insbesondere die Eiweißgruppe der Gliadine im Verdacht, ungewünschte Immunreaktionen hervorzurufen, so die Lebensmittelchemikerin weiter.  

60 Weizensorten aus der Zeit von 1891 – 2010 analysiert

Doch wie groß sind die Unterschiede zwischen alten und neuen Weizenzüchtungen wirklich? Um zur Klärung der Sachlage beizutragen, untersuchte das Team um Katharina Scherf am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie den Eiweißgehalt von 60 bevorzugten Weizensorten aus der Zeit zwischen 1891 und 2010. Möglich machte dies das Leibniz-Institut für Pflanzengenetik und Kulturpflanzenforschung. Es verfügt über ein umfangreiches Saatgutarchiv. Aus diesem wählten die Forschenden für jedes Jahrzehnt der betrachteten 120 Jahre jeweils fünf führende Weizensorten aus. Um vergleichbare Proben zu generieren, bauten sie die verschiedenen Sorten in den Jahren 2015, 2016 und 2017 unter jeweils gleichen geografischen und klimatischen Bedingungen an.  

Wie Analysen des Wissenschaftlerteams zeigen, enthalten moderne Weizensorten insgesamt etwas weniger Eiweiß als alte. Der Glutengehalt blieb dagegen über die letzten 120 Jahre konstant, wobei sich die Zusammensetzung des Glutens jedoch leicht veränderte. Während der Anteil der kritisch gesehenen Gliadine um rund 18 Prozent sank, stieg im Verhältnis der Gehalt der Glutenine um etwa 25 Prozent an. Darüber hinaus beobachteten die Forschenden, dass mit einer höheren Niederschlagsmenge im Erntejahr auch ein höherer Glutengehalt der Proben einherging.  

Umweltbedingungen sind entscheidender als die Sorte

„Überraschenderweise hatten Umweltbedingungen wie die Niederschlagsmenge, sogar einen größeren Einfluss auf die Eiweißzusammensetzung als die züchterischen Veränderungen. Zudem haben wir zumindest auf Eiweißebene keine Hinweise darauf gefunden, dass sich das immunreaktive Potential des Weizens durch die züchterischen Maßnahmen verändert hat“, erläutert Katharina Scherf, die heute ihre Forschung als Professorin am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) fortsetzt. Jedoch seien auch noch nicht alle im Weizen enthaltenen Eiweißarten im Hinblick auf ihre physiologischen Effekte untersucht, gibt Scherf zu bedenken. Es bestünde also noch viel Forschungsbedarf.

Originalpublikation:Pronin D, Börner A, Weber H, Scherf KA (2020) J Agric Food Chem, DOI: 10.1021/acs.jafc.0c02815. Wheat (Triticum aestivum L.) breeding from 1891 to 2010 contributed to increasing yield and glutenin contents but decreasing protein and gliadin contents  

Förderung: Die Studie wurde von der Leibniz-Gemeinschaft im Rahmen des Leibniz-Wettbewerbs 2015 gefördert; Projektnummer: K195/2015 (WHEATSCAN: Unraveling the causes for wheat sensitivities).  

Hintergrundinformationen:

Weizen ist eine der wichtigsten Kulturpflanzen und in vielen Ländern ein bedeutendes Grundnahrungsmittel. Laut der Food and Agriculture Organization der vereinten Nationen lag die globale Weizenernte im Jahr 2018 bei über 734 Millionen Tonnen. Deutschland gehört mit über 20 Millionen Tonnen Weizen pro Jahr zu den 20 größten Weizenproduzenten. Alle heutigen Zuchtformen des Weizens leiten sich von Urgetreideformen ab, die Menschen bereits vor 10.000 Jahren anbauten.  

„Gliadine“ und „Glutenine“ unterscheiden sich in ihren molekularen Eigenschaften und beeinflussen so in unterschiedlicher Weise das Backverhalten eines Teiges. Gliadine spielen eine Rolle für die Viskosität und Dehnbarkeit eines Teiges. Die Glutenine bilden dagegen aufgrund ihrer Moleküleigenschaften ein durchgängiges Netzwerk, das für den Dehnwiderstand und die Elastizität des Teiges verantwortlich ist. Sie gehören in vernetzter Form zu den größten natürlich vorkommenden Eiweißmolekülen.

Abgrenzung der Zöliakie zum Krankheitsbild der „Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivtät“ https://www.dzg-online.de/krankheitsbild.312.0.html

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Freising 14.11.2018 - Moderne, aber auch ursprüngliche Weizenarten wie Einkorn, Emmer und Dinkel enthalten natürlicherweise eine Gruppe von Eiweißmolekülen, die im Verdacht steht, Symptome einer Weizenunverträglichkeit auszulösen. Eine neue Studie des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München zeigt erstmals im direkten Vergleich, dass Einkorn im Gegensatz zu Brotweizen, Hartweizen, Dinkel und Emmer keine oder deutlich geringere Mengen dieser Eiweiße enthält. Die Forschenden veröffentlichten ihre Ergebnisse nun in der Fachzeitschrift Journal of Agricultural and Food Chemistry. Weitere Informationen unter: https://www.leibniz-lsb.de/presse-oeffentlichkeit/pressemitteilungen/pm-14112018-pressemitteilung-einkorn-weizenunvertraeglichkeit/

Kontakt:

Prof. Dr. Katharina Scherf

Leiterin der Arbeitsgruppe Functional Biopolymer Chemistry am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München
Lise-Meitner-Str. 34
85354 Freising

Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
Institut für Angewandte Biowissenschaften
Abteilung für Bioaktive und Funktionelle Lebensmittelinhaltsstoffe
Tel.: +49 721 608 42929
E-Mail: katharina.scherf(at)kit.edu

Darina Pronin
Arbeitsgruppe Functional Biopolymer Chemistry am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München
Lise-Meitner-Str. 34
85354 Freising
E-Mail: d.pronin.leibniz-lsb@tum.de

Pressekontakt:
Dr. Gisela Olias
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Tel.: +49 8161 71-2980
E-Mail: g.olias.leibniz-lsb@tum.de
www.leibniz-lsb.de

Informationen zum Institut

Das Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München (Leibniz-LSB@TUM) besitzt ein einzigartiges Forschungsprofil. Seine Wissenschaftler kombinieren Methoden der biomolekularen Grundlagenforschung mit Analysemethoden der Bioinformatik und analytischen Hochleistungstechnologien. Ihr Ziel ist es, die komplexen Inhaltsstoffprofile von Rohstoffen bis hin zu den finalen Lebensmittelprodukten zu entschlüsseln und deren Wirkung auf den Menschen aufzuklären. Basierend auf ihrer Forschung entwickelte Produkte sollen dazu beitragen, die Bevölkerung auch in Zukunft nachhaltig und ausreichend mit gesundheitsfördernden, wohlschmeckenden Lebensmitteln zu versorgen. Darüber hinaus sollen die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu dienen, personalisierte Ernährungskonzepte zu entwickeln, die zum Beispiel Menschen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit helfen, ohne dass die Lebensqualität eingeschränkt und die Gesundheit gefährdet ist.


Das Leibniz-LSB@TUM ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, die 96 selbständige Forschungseinrichtungen verbindet. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen - u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,9 Milliarden Euro.